Überlegungen eines neuen Bewohners des Flüchtlingsheims in der Klever Oberstadt
(Versuch der Übersetzung eines Gesprächs)
Gerade bin ich hier angekommen aus Syrien. Es war ein langer, gefährlicher und mühsamer Weg. Darüber möchte ich lieber nicht sprechen. Jetzt bin ich in Deutschland. Für mich heißt das Sicherheit, Menschlichkeit. Zu Hause habe ich die Worte aus dem Grundgesetzt Deutschlands gelesen:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das bedeutet für mich Licht, Hoffnung, Klarheit. Den ganzen Weg habe ich diesen Satz in mir mitgetragen.
Aber der erste Schritt in das Haus ließ auch erste Zweifel aufkommen.
Ich stehe vor einer verschmutzten Tür. Sie anzufassen erinnert mich an die unangenehmen, erzwungenen Aufenthalte und Verstecke unterwegs. Aber der Backstein ist sauber und freundlich. Auch die vielen Fenster, die Gutes versprechen.
Dann der erste Schritt in das Haus hinein. Blick nach links: ein zerstörtes Fester, es erinnert mich an Stockhiebe. Hinter dem Fenster ein freundliche Mann. Er kommt aus seinem Zimmer, begrüßt mich freundlich, hat einen Schlüssel in der Hand und Bettzeug für mich. Bevor er mit mir nach oben geht, spricht er noch mit anderen, die schon hier wohnen. Ich schaue mich um. Der innere Anstrich hier in der schmalen Diele ist sehr verschmutzt; auf dem Boden, vor allem in den Ecken, dicker Schmutz, offensichtlich alt, angesetzt; dann sehe ich auch den Schmutz in den vielen Rissen zwischen Fußboden und Wand, den Schmutz in der Fassungen der Türpfosten, emporwachsender Schmutz.
Jetzt wird der Blick auf das schmale Treppenhaus frei. Muss man dadurch? Der Blick auf den Boden, die Ecke gegenüber der Treppe erzeugt Übelkeit. Hier haben sich vor langer Zeit vielleicht Menschen übergeben, oder ihre Blase geleert. Der Schmutz setzt sich nach oben fort, die Treppenwangen hinauf; Ekel; warum gibt es hier getrocknete Blutflecke? Sollen die neuen Bewohner eingeschüchtert werden? Ist es eine gezielte Drohkulisse? Jede Stufe der Treppe ist von Schmutz umrahmt. Wo halte ich mich fest? Der Handlauf klebt.
Der erste Schritt ins Obergeschoss zeigt, dass die Treppe keine strategisches Einschüchterungsinstrument ist, sondern Teil einer Verschmutzungskultur. In d er Ecke des Flures im Obergeschoss ist eine Verkleidungsecke für Kabel aufgebrochen, Schmutz starrt von allen Wänden und vom Boden. Zum Erbrechen ist die Ecke beim Fenster, das Aussicht auf die Straße bietet; das Fenster kann nicht geöffnet werden. Man steht dort auch gewiss nicht gerne, denn der Schmutz ist so widerwärtig, dass man versucht, irgendeinen sauberen Ruhepunkt für die Augen zu finden. Vergebens. Wer schmeißt hier noch seine Zigarettenkippen hinzu? Ist das vielleicht aus Wut über die Zumutung, hier wohnen zu müssen? Oder passt man sich nach kurzer oder längerer Zeit an diesen Schmutz an?
Es geht weiter hinauf. Mein Zimmer befindet sich offensichtlich unter dem schrägen Dach. Auch diese weitere Treppe ist durch und durch verschmutzt. Blutflecken an den Treppenwangen., alte Blutflecken. Werde ich hier wohnen? Wie lange? Wie lange kann man es hier aushalten? Später höre ich, dass manche schon nach einigen Monaten eine Wohnung bekommen, zusammen mit anderen; aber ich treffe auch einen scheuen Menschen, der schon mehr als 10 Jahre hier lebt.
Inmitten dieser Schmutzwelt befindet sich mein Zimmer; hier werde ich leben, für eine unbekannte Dauer, mit 4 oder 5 andere Männer. Ich fange an, zu fragen. Wo sind sie her? Worauf warten sie; was hoffen sie; wie halten sie durch? Tausend Antworten, aber auch Schweigen. Nach einigen Wochen spricht man auch nicht mehr über den Schmutz.
Den Satz über die Menschenwürde habe ich nicht vergessen, aber er bezieht sich wohl auf eine andere Welt. Ob und wann ich dorthin gelange?